K.B.
... eine «Störung», die mich schon fast ein ganzes Leben lang quälte. Ich hatte bisher abwechslungsweise und mit eher zweifelhaftem Erfolg versucht, sie zu verheimlichen, sie zu verdrängen, sie loszuwerden, sie zu bekämpfen, sie zu verleugnen. Ich hatte mich mehr schlecht als recht damit arrangiert. Die «Störung» war ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil meines Lebens geworden.
Und obwohl ich mich also wohl oder übel damit abgefunden hatte überschattete sie dennoch mein gesamtes Leben dauerhaft. Es schien kein Entkommen zu geben.
Jahrelange Therapie und mehrere Klinikaufenthalte führten zwar zu bisweilen deutlichen Verbesserungen meiner Lebensqualität. Dennoch legten sich mir die Symptome mit zuverlässiger Regelmässigkeit als Stolpersteine in meinen Weg. Nur zu oft mutierten sie urplötzlich zu unüberwindbaren Hindernissen, die mich immer wieder scheitern liessen.
Also hatte ich mit 48 Jahren schlussendlich damit abgefunden, mein Leben als kräftezehrenden Hürdenlauf hinnehmen zu müssen.
Bis ich Manuela kennen lernte. Und: Sie bot mir an, mich zu begleiten!
Eigentlich hatte ich die Hoffnung schon längst aufgegeben. Und dann traf ich im genau richtigen Moment auf jemanden, der doch noch an mich glaubte. Ich hatte also nichts mehr zu verlieren, und so sagte ich zu und liess mich auf das «Abenteuer» ein. Ich betrachtete es als ein letztes Aufbäumen vor dem endgültigen Versinken in die Resignation.
Wir vereinbarten ein Wochenende in der Lenk. Ich hatte die Wahl zwischen (anonymem) Hotelzimmer oder der Übernachtung bei Manuela in ihrem heimeligen Chalet. Ich entschied mich für die intimere Variante.
Nun, ich werde erst einmal herzlich in Empfang genommen und darf die «Prinzessinnen-Suite» beziehen. So viel Ehre schon zu Beginn öffnet mir rasch mein Herz einen Spalt breit. Ich fühle mich sofort angenommen und willkommen. Was für eine Wohltat.
Wir besprechen bei einer Tasse Tee die grobe Terminplanung für die kommenden drei Tage. Mir ist noch ein wenig mulmig zumute, aber Manuela’s offene Herzlichkeit vermag mich zuversichtlich zu stimmen.
Nach einem ersten Austausch zu meiner momentanen Befindlichkeit bekomme ich erst mal eine schriftliche Arbeit zu erledigen. Ich soll einige Überlegungen anstellen zu konkreten, auf mich bezogene Fragestellungen. Mit meinen Antworten im Gepäck machen wir uns dann auf den Weg.
Es ist tiefer Winter, wir haben uns warm eingepackt und fahren mit der Gondelbahn auf den Berg. Nach einer Stärkung im gemütlichen Bergrestaurant stapfen wir durch den tiefen Schnee, frischer Wind bläst uns ins Gesicht. Manuela führt mich zu einem ihrer Lieblingsplätze, und wir sitzen still da und betrachten ehrfürchtig die sich uns bietende Aussicht auf die winterliche Bergwelt.
Ich atme tief die frische, kalte Bergluft ein und spüre allmählich, wie mein ganzer Körper mit Sauerstoff geflutet wird. Meine Gedanken kommen zum Stillstand, ich komme in meinem Körper an. Ich muss nichts. Ich bin. Hier und Jetzt. Und dieser phantastische Anblick lässt mein Herz still hüpfen vor Freude.
Ich bin bereit für ein paar grundlegende Erklärungen von Manuela. Sie zeichnet einen Kreis in den Schnee. Das bin ich. Und je mehr meiner Gefühle und Gedanken ich schon zu mir hineingenommen habe, desto runder werde ich. Und je runder die Kugel, desto weniger eiert sie durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Will heissen, je mehr von meinen «Glaubenssätzen» ich wirklich in mir integriert habe, desto weniger schlingere ich durch den Lebens-Hindernis-Parcour. Klingt einleuchtend, kann ich nachvollziehen. Soweit die Theorie.
Schweigend marschieren wir auf dem Winterwanderweg zur Mittelstation. Ich bekomme Zeit, bei mir anzukommen, mit all meinen Sinnen wahrzunehmen. Ich fühle den kalten Wind im Gesicht, sehe die majestätische Bergwelt, höre den Sturm über die Bergkuppe pfeifen, rieche die klare, frische Winterluft. Ich spüre, wie sich meine Füsse durch den Schnee bewegen, es knirscht bei jedem Schritt unter den Sohlen. Mein warmer Atem dampft, ich spüre meinen Puls. Ich muss nichts erklären und vorerst auch noch nicht alles verstehen. Mein Gedankenkarussell kommt allmählich zum Stillstand, mit der Zeit kristallisieren sich mir die wesentlichen Fragen heraus.
Unten im Dorf gehen wir einen wärmenden Cappuccino trinken. Im Gespräch taste ich mich vorsichtig an eine meiner zentralen Fragestellungen heran: Was bedeutet für mich Weiblichkeit? Was für eine Frau war ich bisher? Nach welchen Prinzipien hatte ich mich bis anhin verhalten? Welche Frauen waren meine direkten «Vorbilder»? Was davon habe ich -auch unbewusst- übernommen? Was stört mich an meinem Frau-Sein? Was möchte ich gerne ändern? Was für eine Frau möchte ich in Zukunft gerne sein? Wir schauen uns unauffällig im Restaurant um, sehen uns die unterschiedlichsten Frauen genauer an, machen uns Gedanken, tauschen uns aus.
Dabei entsteht allmählich mehr Vertrauen. Manuela drängt mich zu nichts. Sie stellt «bloss» geschickt gezielte Fragen, die mich meinem Thema langsam näher bringen.
Bei ihr zuhause bin ich noch nicht so weit, mich auf noch mehr Nähe einzulassen. Sie leitet mich durch eine Körper-Achtsamkeits-Übung. Dabei scanne ich in Gedanken durch meinen ganzen Körper von Kopf bis Fuss, beobachte. Ich muss gar nichts verändern, nur wahrnehmen, was ist. Das hilft mir sehr, mich für den Moment genau so zu akzeptieren, wie ich bin.
Nach dem gemeinsamen Nachtessen geniesse ich ein entspannendes warmes Bad und bin dann bald so wohlig müde, dass ich in einen ruhigen, erholsamen Schlaf sinke. Ich komme mir so angenommen vor wie schon lange nicht mehr in meinem Leben.
Am nächsten Morgen schickt mich Manuela nach dem Frühstück erst mal alleine los. Meine Aufgabe ist ein «achtsamer Spaziergang». Ich nehme meine Gefühle und Gedanken wahr, ohne sie zu beurteilen. Ich werde mir meines Körpers detailliert bewusst, spüre jede Bewegung. Verspüre zunächst einen leichten Druck im Kopf, der allmählich stärker wird.
Manuela nimmt dieses Symptom auf und beginnt mit mir, damit zu arbeiten. Ja, dieser Druck-Kopfschmerz kommt mir bekannt vor, ich erinnere mich an schier migräneartige Anfälle.
Ja, ich bin bereit, näher hinzuschauen. Ich vertraue darauf, wohlwollend geführt zu werden. In einer Meditation begegne ich mir selber, damals, als kleines Mädchen. Süss, die Kleine! Ich bitte sie nun, mich in eine Schlüsselszene zu führen, die mit meinem Kopfweh zu tun hat. Zu meinem Erstaunen tauchen glasklare, vermeintlich längst vergessene Szenen auf. Ich erlebe die Situation nochmal, sehe sie durch Kinderaugen. Der Clou dabei ist, dass es dieses Mal darum geht, dass ich heute, als Erwachsene, ganz bewusst die Gefühle fühle, die damals so bedrohlich waren, dass sie schon gar nicht sein durften. Die Kleine hatte damals eine Lösung gefunden, um zu überleben. Damals machte ihre Strategie absolut Sinn. Aber heute, als Erwachsene, kann ich Verantwortung dafür übernehmen. Ich kann das Furchteinflössende endlich zu mir nehmen. Ich muss nicht mehr verdrängen. Mein Gefühl damals war berechtigt, es ist richtig. Ich bin richtig.
Und so also nehme ich einen bisher ausgeschlossenen Anteil meiner selbst hinein in meine Kugel. Ich darf heute erleben, wie ich ein kleines Stückchen runder werde. Oh wow, ist das anstrengend. Hmmm, fühlt sich das gut an!
Ich kuriere meine Erschöpfung eingekuschelt im Liegestuhl an der Sonne aus. Da scheint sich eine neue Freundschaft anzubahnen, mit einem kleinen, blonden, unendlich weisen Mädchen! So fühlt sich echtes Glück an!
Das Tüpfelchen auf dem i des heutigen Tages ist eine sanfte Rückenmassage. Noch so eine neuartige Begegnung mit mir selber. Müde ziehe ich mich in «mein» Prinzessinnengemach zurück und schlafe sofort zufrieden ein.
Am nächsten Morgen fühle ich völlig erholt und ausgeschlafen. Die Sonne scheint und es ist so warm, dass wir das Frühstück sogar draussen auf dem Balkon auftischen können. Und als wir so dasitzen lädt Manuela mehr nebenbei ein weiteres lästiges Symptom, das mich schon lange ärgert, mit an den Tisch ein.
Da ich schon am Tag zuvor miterlebt hatte, dass sich mir dank eines Signals meines Körpers etwas sehr Bedeutsames zeigen kann, lasse ich mich auf das «Spiel» ein. Ich lasse mein Symptom zu Wort kommen. Oha! Jetzt, wo ich mal wirklich bereit bin zum Zuhören, kommt aber eine deutliche Sprache. Manuela unterstützt mich dabei, nicht in eine Verteidigungshaltung zu gehen, sondern mich meinem Symptom offen und ernsthaft zu widmen. Das ist ja allerhand, was ich da zu hören bekomme. Und wenn ich ehrlich bin: Die Sache ist nicht von der Hand zu weisen. Aber das ist erst der Anfang. Denn nun tritt wieder Meine Kleine auf den Plan und führt mich zielsicher zu exakt DER Situation, die der Ursprung ist für meine «Störung». Nun liegt er offen da, der Stolperstein. Ein ganzer Felsbrocken ist es sogar. Die Szene ist eindeutig und absolut repräsentativ. Ich bin erstaunt. Ich hätte nie da gesucht. Das tut nun sehr weh, und dennoch ist es sooo wichtig, den Schmerz und die Wut und die Trauer dieses eine Mal zu fühlen. Ich bin so dankbar, dass Manuela da ist und mich genau jetzt nicht im Stich lässt. So gelingt es mir, mich selber ernst zu nehmen. Gedanken und Gefühle wirbeln wild durcheinander, und dennoch gelingt es mir, mit ihrer Hilfe, standhaft zu bleiben, mich nicht abzuwenden. Es mit mir selber durchzustehen.
Danach verbringe ich draussen in der Sonne nochmal viel Zeit mit meiner neuen kleinen Freundin. Ich kann das Glücksgefühl gar nicht beschreiben, es gibt keine Worte dafür wie es ist, wenn man sich selber wiedergefunden hat.
Später fahren wir nochmal hoch mit der anderen Gondelbahn und machen eine kleine Wanderung. Wir setzen uns an die sonnengewärmte Holzwand einer Alphütte und sitzen einfach still da. Ich lasse mich überwältigen von der Kraft und der Schönheit der Berge. Seit Jahrtausenden stehen sie da, majestätisch und unverrückbar. Sie strahlen eine unglaubliche Energie aus. Und ich darf hier sitzen und diese Kraft tanken, gratis, umsonst. Danach gehen wir noch ein Stück weiter. Die Luft ist frisch. Jeder Atemzug reinigt den Körper. Ich lasse es zu und geniesse.
Was ich nicht zu hoffen gewagt hatte ist dennoch eingetroffen. Meine «Störung» ist behoben. Nachhaltig! Wow, das ist einfach der absolute Burner. (Um es mal Manuela’s Worten auszudrücken).
Danke. Danke. Danke!